Wie ein KICKFAIR-Standort entsteht: Die Gebrüder-Asam-Mittelschule in Ingolstadt
Wiktoria aus Osnabrück. Firat aus Hannover. Oder Gabriel aus Emden. Die Liste der Youth Leader, die aus den KICKFAIR-Schulen hervorgegangen sind, ist lang. Auch Jahre nach der Schulzeit gestalten sie KICKFAIR weiterhin maßgeblich mit. Wann immer es ihre Ausbildung erlaubt, kommen sie an Schulen, um ihre Erfahrungen weiterzugeben. Sie sind Vorbilder für Jüngere und leben Werte wie Teamgeist und Fairness vor. Auch ihr persönlicher KICKFAIR-Start lag in der fünften Klasse als Spieler*innen im Straßenfußball. Doch wie genau startet eine Schule die langfristig angelegten Prozesse? Was sind die Vorrausetzungen, damit junge Menschen sich darin genauso entwickeln können, wie es Wiktoria, Firat und Gabriel getan haben? Wie KICKFAIR ein solches individuelles Lernkonzept gemeinsam mit einer Schule entwickelt, zeigt das Beispiel des neuen Standorts an der Gebrüder-Asam-Mittelschule in Ingolstadt.
„Die Youth Leader bringen ihre Erfahrungen mit rein, erzählen von ihren Erlebnissen. Die Kids können sich mit ihnen identifizieren.“
Drei Halbzeiten. Fairplaypunkte. Dialogzone. Für die erste KICKFAIR-Generation von Kindern und Jugendlichen in Ingolstadt war die Spielweise anfangs völlig neu. Ein Erfahrungstransfer, bei dem Ältere ihre Erfahrungen an die Jüngeren weitergeben, war aus der eigenen Schule heraus entsprechend noch nicht möglich. Darum ging es mit zwei Projekttagen für alle siebten Klassen zum Thema „Straßenfußball spielen“ los. Die Interessierten konnten sich danach freiwillig für das KICKFAIR Jugend-Orga Team anmelden. Soweit die Idee.
Das Vorhaben stellte sich am Morgen des ersten Projekttages als durchaus ambitioniert heraus, wie Lukas berichtet, der als Teammitglied von KICKFAIR die Workshops umsetzte: „Wir wussten, dass es recht viele Schüler*innen sein würden, da der siebte Jahrgang aus sechs Klassen besteht. Doch was ein Schulzentrum von drei Schulen mit einem geteilten Pausenhof tatsächlich bedeutet, wurde mir erst klar, als die erste große Pause begann – es waren unglaublich viele Schüler*innen auf kleinstem Raum.
Die Vor- und Nachbesprechungen in der Dialogzone waren schlichtweg nicht machbar. Es gab keine Ruhe und es lag eine gewisse Anspannung in der Luft. Zudem gab es große Unterschiede in der Gruppe – hinsichtlich Alter, Deutschkenntnissen, Ausdruck. Eine Gruppe dieser Größe hat einen enormen Betreuungsbedarf.“ Die Konsequenzen beschreibt die Jugendsozialarbeiterin Anja Meier: „Die Kids, die Förderbedarf haben, die schwimmen oft irgendwie mit“.
Nach den Eindrücken und Erfahrungen der Projekttage war klar, dass eine verstärkte Betreuung des Projekts vor Ort nötig sein würde. Entsprechend des lokalen Bedarfs wurde reagiert: Während an fest etablierten KICKFAIR-Schulen die wöchentlichen Aktivitäten größtenteils von pädagogischen Fachkräften vor Ort betreut werden, kam Lukas fortan wöchentlich zu den Treffen des Jugend-Orga Teams an die Schule, um das pädagogische Team zu unterstützen. Neben ihm kamen nun auch erfahrene Youth Leader aus anderen KICKFAIR Standorten sehr regelmäßig dazu. „Das hat sehr geholfen. Die Youth Leader bringen ihre Erfahrungen mit ein und erzählen von ihren Erlebnissen. Die Kids können sich mit ihnen identifizieren“, beschreibt Anja Meier den Mehrwert. Außerdem genehmigte die Schulleitung nach dem ersten halben Jahr ein Deputat für eine Lehrkraft und stellte zudem in Aussicht, dass zeitnah auch die Jugendsozialarbeiterin der Schule in die Betreuung eingebunden werden könne – Anja Meier.
„Die Jugendlichen waren enorm stolz, ihre eigenen vier Wände an der Schule zu haben“
Aus den Projekttagen entstand ein Jugend-Orga Team von 17 Jugendlichen, die sich fortan einmal wöchentlich treffen sollte, um gemeinsam Straßenfußball-Aktivitäten an der Schule zu planen und mitzugestalten. „Die Schwierigkeit war erstmal, überhaupt einen gemeinsamen Termin zu finden. Manche Kids hatten noch Unterricht, andere hatten frei, wieder andere kamen gerade aus dem Unterricht und hatten noch keine Pause. Den Stundenplan von sechs Klassen entsprechend anzupassen, ließ sich nicht so schnell umsetzen. Auch die ständig wechselnden Räume waren ein Problem. Und Hallenzeiten zum Spielen zu bekommen war quasi unmöglich. Die Lösung kam dann vom KICKFAIR-Standort aus Emden, denn dort gibt es ein KICKFAIR Büro an der Schule – das hat die Lage enorm verbessert. „Wir mussten keinen Raum mehr suchen, die Kids wussten sofort wo sie hingehen mussten und wir konnten uns dort mit allen Materialien ausbreiten“, schildert Lukas die neue Situation. „Das Büro hatte noch einen weiteren positiven Effekt: Die Jugendlichen waren enorm stolz, ihre eigenen vier Wände an der Schule zu haben“, ergänzt Anja Meier.
„Vielen war nicht klar, welche Verantwortung das mit sich bringt.“
Das Jugend-Orga Team setzte sich nach einigen wöchentlichen Treffen das gemeinsame Ziel, zum Schuljahresabschluss ein Turnier für alle fünften Klassen zu planen. Doch die Vorstellungen, was das tatsächlich für sie bedeuten würde, lagen bei den Jugendlichen zunächst sehr weit auseinander. Lukas erinnert sich: „Es hatten alle große Lust, ein solches Turnier zu veranstalten. Doch vielen war nicht klar, welche Verantwortung das mit sich bringt. Einige haben in jedem Treffen viel Mist gemacht und wir haben meist eine gewisse Anlaufzeit gebraucht, bis die Gruppe ruhiger wurde und gemeinsam etwas geplant werden konnte. Der Besuch beim Festival in München kam dann genau zur richtigen Zeit.“
Denn der Festivalbesuch war in vielerlei Hinsicht eine sehr wertvolle Erfahrung für die junge KICKFAIR-Gruppe aus Ingolstadt. „Viele Schüler*innen kommen nur sehr selten einmal raus, denn nicht alle Eltern können sich solche Ausflüge leisten. Einfach mal während eines Schultages mit dem Zug nach München zu fahren, war schon etwas Besonderes“, beschreibt Anja Meier. Nachdem die Jugendlichen KICKFAIR nur von der eigenen Schule kannten, waren sie von der Dimension auf dem Festival überwältigt, wie Lukas schildert: „Am zweiten Tag haben sie ihre Zurückhaltung abgelegt und sich von der Festivalstimmung anstecken lassen. Die Youth Leader dort wiederzusehen und so viele neue Leute zu treffen, die auch alle KICKFAIR-Aktivitäten an ihren Schulen organisieren, hat ihren Ehrgeiz für das eigene Turnier nochmals befeuert. Sie sprechen noch heute davon.“
„Der schönste Moment war einige Stunden später, als sie die zwei Courts wieder abgebaut hatten und wir alle zusammensaßen.“
Zum Ende des Schuljahres war es dann soweit: Nach Höhen und Tiefen in der monatelangen Vorbereitung fand das erste selbstorgansierte Turnier des Jugend-Orga Teams statt – das Geplante wurde umgesetzt. „Am Morgen des Turniers waren alle konzentriert bei der Sache und auch ganz schön nervös – ich inbegriffen“, verrät Lukas und fügt hinzu: „Der schönste Moment war einige Stunden später, als sie die zwei Courts wieder abgebaut hatten und wir alle zusammensaßen. Ich habe in die Runde geschaut und ausschließlich zufriedene Gesichter gesehen. Die Kids waren von sich selbst beeindruckt, wie gut das Turnier geklappt hatte. Sie haben es sich selbst bewiesen und sind an diesem Tag noch weiter als Gruppe zusammengewachsen.“ Mit diesem Gefühl und der Vorfreude, dass es im nächsten Schuljahr mit KICKFAIR weitergehen würde, ging es dann für alle in die Sommerferien. Der Start von KICKFAIR in Ingolstadt war geglückt.
Mit dem Erfolg des ersten Turniers im Gepäck ging es ins neue Schuljahr. Das Turnier hatte KICKFAIR an der Schule sichtbar gemacht und viele weitere Schüler*innen wollten mitmachen. Gemeinsam mit der Schulleitung entstand parallel die Idee, die Methodik von KICKFAIR zu nutzen, um die Schüler*innen stärker in Verantwortung zu bringen und gemeinsam ein Prinzip zu entwickeln, nach welchem im Sozialraum Schule miteinander umgegangen werden sollte. „Wir dachten, jetzt können wir den nächsten Schritt gehen und die Werte von KICKFAIR auch in andere Bereiche der Schule hineintragen. Doch der Zusammenhalt im Jugend-Orga Team war nicht mehr so gegeben, als die Neuen hinzukamen“, erzählt Lukas und Anja Meier ergänzt: „Einige der Älteren haben plötzlich wieder viel gestört, hatten nicht mehr so viel Spaß und haben den Jüngeren die Schuld daran gegeben – dabei hatten sie sich die neuen Teilnehmer*innen durch eine Art Bewerbungsverfahren selbst ausgesucht. Da waren zum Beispiel zwei junge Mädchen, die meistens ganz alleine vorne im KICKFAIR Büro saßen und sich von den anderen blöde Sprüche anhören mussten.“
Die geplanten Workshops und Straßenfußball-Aktivitäten wurden darum kurzerhand abgesagt. „Wenn man zu viel arbeitet, dann fehlen manchmal einfach die gemeinsamen Momente“, versucht Lukas die Situation zu erklären. Die Lösung: Statt zu organisieren wurde gemeinsam Pizza gegessen. „Diese Momente kamen vorher vielleicht etwas zu kurz. Immer wurde etwas erarbeitet. Jetzt ging es einfach mal nur darum, beisammen zu sein. Dabei haben die Kids viel voneinander erfahren und sich persönlich besser kennengelernt“, berichtet Anja Meier.
Perspektiven beginnen sich zu verändern
Es gab immer wieder Aufs und Abs im Aufbau des neuen KICKFAIR-Standortes in Ingolstadt. Dies scheint bei den Erfahrungen aus anderen Standorten und den massiven Herausforderungen, die insbesondere die COVID-19 Pandemie und deren Folgen mit sich brachten, sehr nachvollziehbar. Insgesamt ist eine sehr positive Entwicklung erkennbar, die sich besonders bei den einzelnen Schüler*innen zeigt. „Nikita zum Beispiel hat in der Schule immer wieder Probleme. Dafür ist er bei vielen bekannt. Erfolgserlebnisse, die ihn stärken, fehlten lange. Er macht auch bei KICKFAIR manchmal Mist – doch wenn er als Teamer vor einer Gruppe Jüngerer steht, dann hat er einen klaren Plan und kommt gut bei ihnen an. Er wird im Jugend-Orga Team geschätzt und unterstützt auch andere, wenn sie sich beim Teamen schwertun. Er wirkt dadurch zufriedener und selbstsicherer“, freut sich Lukas und erläutert weiter: „Neulich hat mich eine Lehrerin auf ihn angesprochen. Sie hätte ihn noch nie so konzentriert und hilfsbereit erlebt.“ Anja Meier beobachtet bei anderen Jugendlichen Ähnliches: „Gerade die Lauteren, die oft den Unterricht stören, sind großartige Teamer und immer voll bei der Sache. Gleichzeitig sind diejenigen, die auf dem Pausenhof oft alleine sind, weil sie sehr zurückhaltend sind und nicht zu den Coolen gehören, bei KICKFAIR super integriert. Das liegt an den gemeinsamen Momenten, den Ausbrüchen aus dem Schulalltag, die alle sehr zusammengeschweißt haben.“
KICKFAIR gewinnt an der Gebrüder-Asam-Mittelschule immer mehr an Bedeutung. Bereits jetzt, im zweiten Jahr, können fast alle Schüler*innen der Mittelschule erklären, was es mit den drei Halbzeiten, den Fairplaypunkten und der Dialogzone auf sich hat. Auch im Lehrerzimmer hat KICKFAIR an Bekanntheit gewonnen, wie Lukas lachend erzählt: „Wenn ich am Lehrerzimmer klopfe und nach einem Kaffee frage, werde ich mit offenen Armen empfangen und muss aufpassen, dass ich es rechtzeitig zum Treffen schaffe. KICKFAIR wird sehr positiv bei allen wahrgenommen. Mal ehrlich, Turniere sind nicht nur für die Kids tolle Momente, auch die Erwachsenen haben viel Spaß. Solche Highlights nehmen mal die Spannung raus und helfen dem Schulklima ungemein.“ So entstehen durch KICKFAIR nach und nach immer mehr Räume an der Schule, in denen Jugendliche sich mit ihren Stärken einbringen können – erstmal unabhängig von ihrem Abschneiden in Schulfächern. Es ist weiterhin ein Entwicklungsprozess. Doch KICKFAIR ist in Ingolstadt ist auf einen sehr guten Weg, sich nachhaltig im Sozialraum Schule zu verankern und die gemeinsamen Werte aus dem Jugend-Orga Team heraus an die ganze Schule zu tragen.
Zur Gebrüder-Asam-Mittelschule: Die Schule liegt im Südwesten von Ingolstadt. Mit über 700 Schüler*innen ist sie die größte Schule der Region und zugleich auch die größte Schule im Projekt Spielbetrieb. Zudem ist sie Teil eines Schulzentrums und teilt sich unter Anderem den Schulhof und die Sporthallen mit zwei weiteren Schulen – einem Gymnasium und einer Realschule. Fast alle Kinder und Jugendlichen, die die Gebrüder-Asam-Mittelschule besuchen, konnten sich nach der Grundschulzeit nicht aussuchen, an welche Schule sie gehen möchten – wenn sie keine Empfehlung für das Gymnasium oder die Realschule bekommen haben.