Youth Leader Biografie: Selin
Alles begann in einem Sommer vor mehr als sieben Jahren an der Mittelschule an der Schleißheimer Straße im Münchner Vorort Milbertshofen. Ich war an der Realschule durchgefallen und musste die Schule wechseln. Es war frustrierend. Ich wollte nicht akzeptieren, dass ich morgens nie wieder gemeinsam mit meinen Kindheitsfreundinnen zur Schule gehen würde, mit ihnen im Klassenzimmer sitzen und die Pausen verbringen würde. Ich weigerte mich damals, meine Eltern zur Schulanmeldung zu begleiten. Erst als das neue Halbjahr begann und mir nichts anders mehr übrigblieb, betrat ich die „Schleißheimer“ zum ersten Mal.
Heute gibt es kaum etwas, das mir so viel Freude bereitet, wie Neues zu entdecken und neue Menschen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven kennenzulernen. Doch damals, bevor ich die vielen positiven Fremdheitserfahrungen mit KICKFAIR gemacht hatte, fühlte ich mich mit der Veränderung gar nicht wohl. Zudem hat mich zum Schulwechsel niemand gefragt, ich konnte da nicht mitentscheiden. Die Erwachsenen, die Lehrkräfte, die Realschule hatte es für mich entschieden – mit ihren Regeln und ihren Noten.
Selin und Izur erklären die Grundregeln im Straßenfußball – und was das genau mit 75 Jahren Grundgesetz zu tun hat (2024).
Es dauerte ein paar Monate, bis ich bereit war, meine neue Realität zu akzeptieren und mich zu öffnen. Die Offenheit meiner neuen Klassenlehrerin an der Schleißheimer hatte darauf großen Einfluss. Sie unterrichtete uns nicht bloß Mathe und Deutsch, sondern schaffte immer wieder Räume für Gespräche, sie erzählte auch von ihrer Jugend und ihren persönlichen Interessen. Sie erkundigte sich nach uns, unseren Familien und Hobbys. Sie war tatsächlich die erste Lehrkraft, die ich auch als Person kennenlernte. Auch sie war einmal jung und hat ähnliche Dinge erlebt, wie ich selbst. Durch ihre Offenheit und Haltung war sie für unsere ganze Klasse eine Bezugsperson. Heute ist mir klar, dass diese besondere Ebene ihren Ursprung auch im besonderen Miteinander beim Straßenfußball hatte – denn das KICKFAIR Jugend-Orga Team an der Schleißheimer wurde damals von meiner Klassenlehrerin begleitet und viele meiner Klassenkamerad*innen waren mit dabei. So kam auch ich zu KICKFAIR.
Selin bei ihrem ersten Festivalbesuch in Stuttgart (2017).
Dass wir damals die Möglichkeit bekommen haben, eigene Straßenfußballturniere an unserer Schule zu organisieren, veränderte vieles. Wir konnten selbst gestalten und entscheiden. Das kannte ich aus der Schule vorher nicht. Vor allem dieses Gefühl, etwas selbst umgesetzt zu haben, gab uns viel Selbstbewusstsein. Wir waren wirklich sehr unterschiedliche Charaktere in der KICKFAIR Gruppe. Ohne den Straßenfußball hätte ich mit vielen der anderen wohl nie gesprochen. Die gemeinsamen Planungen und Turniere schweißten uns zusammen. Dabei erkannte ich, wie bereichernd es ist, wenn wir alle mit unseren verschiedenen Fähigkeiten zu etwas beitragen können.
Nach meinem Abschluss an der Schleißheimer hing ich etwas in der Luft. Durch KICKFAIR wusste ich, dass es mir viel Freude macht, Jüngere im Straßenfußball zu begleiten. Doch wie es auch nach der Schule mit KICKFAIR weitergehen kann und welche Jobmöglichkeiten mit meiner Leidenschaft für den Straßenfußball zusammenpassen, erschloss sich mir damals noch nicht. Bei einem Grundschulcamp durch den Träger ekkiko, mit dem KICKFAIR in München im Rahmen der Förderkette Kick ins Leben kooperiert, wurde ich dann einfach ins kalte Wasser geworfen – ich sollte dort einen Straßenfußball Workshop geben. Auch Izur war dabei, den ich von einigen KICKFAIR Treffen kannte und von dem ich wusste, dass er bereits ein paar Workshops gegeben hatte. Es lief bestens und machte mir große Freude. Es war der Anfang von zahlreichen Workshops an Schulen – erst quer durch München, dann Bayern und mittlerweile ganz Deutschland. Ich sammelte dabei ganz zentrale Erkenntnisse, die mir auch bei der Berufsorientierung halfen. Wieso nicht etwas arbeiten, dass mir genauso gut liegt und Spaß macht? Ich möchte glücklich in meinem Job sein und ihn nicht nur zum Geldverdienen ausüben. Diese Gedanken halfen mir, mich für eine Erzieherinnenausbildung zu entscheiden – und wie sollte es anders sein: Gerade mache ich mein Berufspraktikum bei KICKFAIR.
Selin bei den Vorbereitungen auf den Straßenfußball-Sommer 2024 (Youth Leader Treffen, Frühjahr 2024).
Durch den Straßenfußball lernte ich viele unterschiedliche junge Menschen aus ganz Deutschland mit ihren vielfältigen Hintergründen sehr persönlich kennen und schätzen. Auch hatte ich in meiner Schulzeit schon internationale Partner*innen aus Ruanda, Indien und Brasilien kennengelernt, was mich sehr beeindruckt hat. In Workshops zu den Partnerländern bekam ich schon eine Idee, dass wir weltweit zusammenhängen. In der Zeit hatte ich aber gleichzeitig sehr großen Respekt vor dem ganzen Globalen und wusste nicht, was da auf mich zukommt. Mit jeder dieser Begegnungen wuchs dann aber mein Wunsch und mein Mut, mehr von der Welt zu sehen und andere Kulturen noch besser kennenzulernen. Es war ein Wunsch, der lange unerreichbar schien und dann plötzlich Wirklichkeit wurde – durch einen Austausch mit der KICKFAIR Partnerorganisation in Paraguay. Gemeinsam mit einem anderen Youth Leader, Carlo, verbrachte ich einen ganzen Monat beim Vakapipopo und vor allem im Internat Pa’i Puku in einer sehr ländlichen Region, viele Autostunden von Asunción entfernt.
Im Vorfeld war ich sehr aufgeregt. Es waren Vorfreude, aber auch einige Bedenken: Würde ich mich dort wohlfühlen? Heimweh haben? Oder gar Langeweile? Wie würde ich mich verständigen? Würde ich noch mehr durch Südamerika reisen können? Doch ab der ersten Sekunde bei Pa’i Puku wollte ich nicht mehr weg. Die Menschen vor Ort schlossen uns sofort ins Herz. Sie hatten überhaupt keine Erwartungen an uns und freuten sich, einfach Zeit mit uns zu verbringen. Die Sprache stellte mich vor keine Probleme – durch Lächeln, Gesten, Komplimente und diese gegenseitige Zuneigung schafften wir es, uns irgendwie über alles auszutauschen. Was uns alle auf Anhieb verband, war der Straßenfußball, der bei Pa’i Puku wie selbstverständlich in den Alltag integriert ist. Mädchen und Jungen werden dort separat unterrichten. Doch wenn Straßenfußball gespielt wird, sind alle zusammen. Genau wie bei uns, organisieren die Älteren den Straßenfußball für die Jüngeren.
Ich bin wirklich dankbar, diese Erfahrung gemacht zu haben. Jetzt möchte ich das Erlebte und die vielen glücklichen Erinnerungen auch mit Jüngeren hier an den Schulen in Deutschland teilen. Ich möchte ihnen vor allem mitgeben, wie viel wir alle gemeinsam haben und dass man nicht viel Materielles braucht, um glücklich zu sein. Bei Pa’i Puku gibt es keine Handys. So, wie die Jugendlichen hier bei uns zwischendurch immer wieder auf TikTok rauf- und runterscrollen, so wird in Paraguay bei jeder Gelegenheit kurz Straßenfußball gespielt. Es sind diese kleinen Geschichten, für die sich die Kids in den Workshops interessieren und die es für sie greifbarer machen. Ich bin wahnsinnig gespannt, wo ihre Reise mit dem Straßenfußball hingehen wird – und freue mich, sie dabei zu begleiten.